Ein Pikto ist mehr als ein Picture.

Während gerade der Sport in Beijing goldene, silberne und bronzene Medaillen-Leistungen produziert, denken wir Gestalter:innen auch an Weltklasse-Leistungen im Kommunikationsdesign, die vor 50 Jahren erbracht wurden! Denn nicht anders kann man das nennen, was bei den Olympischen Spielen 1972 in München gezeigt wurde. Rein designig natürlich, rein auf die damals bahnbrechenden Piktogramme des deutschen Designers Otl Aicher fokussiert.

Das hatte schon Gewicht, was Otl Aicher da zu Papier brachte und in die Welt entsandte. Obwohl die Piktogramme vielmehr durch ihre Leichtigkeit, Einfachheit, Klarheit und die konzentrierte Schnelligkeit überzeugten.

Mit schlichter Genialität zeigt er uns einen Gewichtheber und wir erkennen deutlich die exakt definierte Haltung, die Proportionen, die Aktion. Mit einem einzigen Strich: Die Schräge beim rechten Bein macht das Knien nachvollziehbar! Und wieder einmal können wir festhalten, was Reduktion auf das Wesentliche, kombiniert mit einer genialen Idee und entscheidender Vorabdefinition der Mittel bewirken kann.

Mit seinen Figuren, dem Rasterdenken und dem Rasterdesign prägte er einen so einzigartigen Stil – ein Meilenstein damals und heute. Denn was er mit seinen klaren Formen, Linien und Relationen schuf, ist der Inbegriff für visuelle Kommunikation. Otl Aicher kombinierte Komplexität mit Raffinesse und schaffte eine bildhafte Symbolik, die in München 1972 keine Fragen offen ließ. Sportlich-informativ gesehen schaffte er weltweites Verständnis ohne Sprachbarrieren. Und anders als in Tokio 1964 bzw. in Mexiko 1968 gab er der Sachlichkeit den Vortritt.

Das Piktogramm ist österreichisch

Ohne die weltbewegende Leistung Otl Aicher schmälern zu wollen, er war nicht der Erfinder des Piktogramms. Das war der österreichische Ökonom und Wissenschaftstheoretiker Otto Neurath, der in den 1920er Jahren Vorläufer der Piktogramme kreierte. Sein Zugang war, mittels Bildsprache den Menschen Bildung und Wissen erreichbar zu machen, auch ohne Kenntnisse der Schriftsprache.

Neurath entwickelte die Wiener Methode der Bildstatistik und nannte sie ISOTYPE – International System of Typographic Picture Education.

In kurzen Worten erklärt und etwas langsamer als ein Piktogramm also: Ihm ging es in erster Linie darum, mit der hohen Rezeptionsfähigkeit volkswirtschaftlich-statistisches Wissen allen Menschen zugänglich zu machen. „Intellektuelle Eigentätigkeit aktivieren“, „psychische Hemmungen abbauen“ und „eine eigene Bildungskultur entwickeln“ – das waren die großen Themen Otto Neuraths.

Otto Neurath Österreichischer Pionier des Informationsdesigns // Piktogramme von Otto Neurath und Gerd Arntz 1928
Zeichen für die fünf Völkergruppen 1928 // Isotype 1920er-Jahre

Seit 1925 arbeitete Neurath an der systematischen Entwicklung einer Bildpädagogik. Er wollte das Lernen erleichtern und war damit einer der ersten, den wir heute Infodesigner nennen würden. Er arbeitete mit seinem Forschungsteam im Wiener Sozial- und Wirtschaftsministerium. 1928 intensivierte er die Zusammenarbeit mit dem Künstler und Gestalter Gerd Arntz. Dieser gab der ISOTYPE den unverwechselbaren Stil. Vervielfältigt wurden die Info-Kreationen übrigens auf Holz- und Linolschnitt.

Otto Neurath und Otl Aicher – die Väter der Piktogramm-Kommunikation – haben dafür gesorgt, dass wir in der Information, in Leitsystemen, in der Orientierung, in den Bereichen Service und Sicherheit schneller und effektiver geworden sind. Ob Digital Natives hier auch an Emojys & Co. denken, lassen wir einmal dahingestellt.

Das Piktogramm auf Wanderschaft

Otl Aicher schaffte es 1972, mit Deutlichkeit und Wiedererkennung, mit Form und Struktur auf das Wesentliche zu fokussieren. Durch die gewonnene Sachlichkeit eröffnet sich dem Betrachter die für ihn bestimmte Information – ohne Umwege.

Kein Wunder also, dass das Piktogramm ein prägendes Element der folgenden Olympischen Spiele blieb. Ein Blick auf die Evolution der Piktogramme zeigt, dass Otl Aicher in seiner Stringenz lange unerreicht bleibt. Einmal verwischen kulturelle und modische Aspekte die Klarheit, ein andermal zeigen sich Unschärfen bei den Definitionen, wieder ein andermal erkennt man eher einen Skizzencharakter in den Ausprägungen.

Ganz subjektiv, aber sehr bestimmt halten wir fest: Nur das Original ist das Original. Bei den folgenden Beispielen vermissen wir die Struktur, die Stringenz, die klare Funktion, die Reduktion auf das überraschend Einfache.

Mexico 1964: Farbe statt Struktur, aztekisch statt athletisch
Tokyo 1968: Uneinheitlich, aber erzählerischer
Moskau 1980: Nicht so ganz ausgereift
Los Angeles 1984: Neue Formen, neue Reduktion
Seoul 1988: Skizzenhaft mit offenem Potenzial
Barcelona 1992: Cooler Strich mit Charakter (Hallo Antoni Gaudí)
Atlanta 1996: Atlanta grüßt die Antike
Athen 2004: Es mutet nach Fund auf Ton an
Beijing 2008: Schriftzeichenanmutung

Von Otl zu digital

Ab den Spielen 2010, so scheint es, ist eine neue Ära angebrochen. Die Piktogramme kommen teilweise konstruierter, cleaner und sachlicher daher. Aufgeräumt einerseits, aber auch ideenreich und ausgewogen.

Sydney 2000 Sommerspiele
Vancouver 2010 Winterspiele
London 2012 Sommerspiele
Sochi 2014 Winterspiele
Rio 2016 Sommerspiele
Pyeongchang 2018 Winterspiele

2010/12/14/16/18: Farbe kommt in die Spiele und Formen verändern sich. 2000 in Sydney zeigt sich das erste Mal eine starke Neuausprägung, mit dem Boomerang als landestypisches Sport- und Jagdgerät. Somit kommt auch eine touristische Note rein.

Beijing 2022: Der chinesische Strich ist unverkennbar

Die Reise durch die Olympischen Piktogramme soll hier enden. Denn noch werden in Beijing 2022 Olympische Medaillen vergeben und die Karawane der Sportler wird dann weiterziehen und weiterkämpfen.

Wir werden auch weitermachen und irgendwann wieder einmal die Frage stellen: Wieviel Otl Aicher ist denn noch drin in den aktuellen Piktogrammen? Denn: Wer verstanden hat, wie Piktogramme funktionieren, weiß auch, wie man Botschaften auf den Punkt bringt. Das ist quasi die olympische Disziplin in der Kommunikation. Auch dafür braucht man Training, Wissen und Fokussierung auf das Ziel. Dabei unterstützen wir gerne.

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Günther Matern ist Gestalter, Strategie-Berater und unterrichtet seit 2004 an der Kunstuniversität Linz. Seine Lehrveranstaltung Designgeschichte und Designtheorie beschäftigt sich mit den vielfältigen Designströmungen der letzten 150 Jahre, analysiert ihre Entstehungsgeschichten und stellt Beziehungen zu aktuellen Gestaltungsanforderungen her. Er betreibt gemeinsam mit seiner Frau Katja Jegorow-Matern seit über 20 Jahren die Werbeagentur Matern Creativbüro.